Es ist Mittwoch, der 29.09.2021 irgendwann gegen 3:45 Uhr und mein Wecker holt mich unsanft aus dem Schlaf. Nicht dass man bei einer Windstärke von 6 – 7 Beaufort und der entsprechenden Atlantikwelle so tief und fest schlafen würde wie im heimischen Bett, aber dennoch ist es eine ungewöhnliche Zeit, um aufzustehen. Und der Blick auf den Wachplan, der keinen Verhandlungsspielraum bietet, bestätigt es: ich muss ran.
Also geht es kurz ins Bad, die rote Nachtbeleuchtung im Bauch von Sabir weist den Weg und verhindert effektiv, dass man sich a) irgendwo die Zehen anhaut und sich b) die Augen durch weißes Licht zu sehr von der Dunkelheit entwöhnen – bei rotem Licht dauert es nur wenige Sekunden, bis man im Dunkeln wieder halbwegs sehen kann, bei weißem mehrere Minuten. Danach schlüpfe ich in mein noch etwas klammes Ölzeug und die Segelstiefel, ziehe die Rettungsweste darüber und stecke meinen Kopf aus dem Niedergang, um Peter zu signalisieren, dass die Wachablösung bereit ist.
Peters letzte Amtshandlung ist der Logbucheintrag, der zu jeder vollen Stunde am Kartentisch erledigt werden muss: aktuelle Position, Wolkenbild, Windgeschwindigkeit und -richtung, Kurs, Bootsgeschwindigkeit und Luftdruck werden notiert, um im Ernstfall eine lückenlose Historie zu haben, die bei einem eventuellen Rettungsmanöver zur Beurteilung der Lage und der einzuleitenden Maßnahmen hilfreich ist.
Peter wirft mir ein „Gute Wacht“ zu, ich quittiere mit „Gute Ruh‘“ und er verschwindet im Bauch von Sabir. Ich mache es mir im Cockpit gemütlich, picke mich mit meinem Lifebelt ein und beobachte gebannt den Sternhimmel über dem Atlantik – die Milchstraße ist ganz deutlich zu sehen. Die nächsten drei Stunden obliegen mir aller 20 Minuten die folgenden Aufgaben:
1. AIS-Kontrolle:
Im Bordcomputer werden Schiffe dargestellt, deren AIS-Signal wir empfangen. Die Reichweite dessen beträgt – je nach Schiff, Wellengang und Höhe der AIS-Antenne – ca. 20 Seemeilen. Tauchen Schiffe im AIS auf, schaue ich mir die Details dazu an, um beurteilen zu können, um was für ein Schiff es sich handelt und zu welchem Zeitpunkt („TCPA“ – „Time of closest point of approach“) wir uns ihm auf welche Distanz („CPA“ – „Closest point of approach“) nähern. Liegt diese Distanz bei über einer halben Seemeile (also einem knappen Kilometer), besteht kein Handlungsbedarf. Ist allerdings abzusehen, dass diese Distanz geringer ist, muss entschieden werden, ob man das andere Schiff anfunkt und fragt, ob die segelnde Sabir auf dem AIS sichtbar ist und ihr nach den „Kollisionsverhütungsregeln“ ausgewichen wird. In allen derartigen Fällen wurde rasch bestätigt, dass wir natürlich sichtbar sind und im Bedarfsfall eine Kurskorrektur der riesigen Tanker/Frachter durchgeführt wird. Im nachfolgenden Bild ist erkennbar, dass sich ein 200 m langer Frachter in zehn Minuten auf 0,37 Seemeilen (knapp 700 m) nähern wird.
In den meisten Fällen sieht man die „gegnerischen“ Schiffe zuerst auf dem AIS und muss dann den Horizont nach ihnen absuchen. In diesem konkreten Fall konnte ich das Schiff sehr schnell ausmachen und als ich sah, dass sein grünes Steuerbordlicht nach kurzer Zeit dem roten Backbordlicht wich, wusste ich, dass wir sichtbar waren und eine Kurskorrektur durchgeführt wurde.
2. Kontrolle von Kurs und Geschwindigkeit
Trotzdem wir wahrlich keinen Zeitdruck hatten, zu einem bestimmten Zeitpunkt in Porto Santo zu sein, müssen der anliegende Kurs und die Geschwindigkeit regelmäßig kontrolliert werden. Zwar steuert der Windpilot Sabir auf dem eingestellten Kurs zum Wind (also dem Winkel, mit dem der Wind auf das Boot trifft), allerdings kann der Wind auch drehen und somit würde der Kurs über Grund nicht mehr stimmen. Stellt man eine derartige Abweichung fest, muss der Kurs zum Wind über ein Seilsystem aus dem Cockpit heraus am Windpiloten angepasst werden. Auch die Bootsgeschwindigkeit sollte sich stets in einem definierten Rahmen bewegen, sofern sich keine anderen Parameter (z. B. Windgeschwindigkeit oder -winkel) ändern. Auch hier gilt: stellt man Abweichungen fest, müssen die Lage beurteilt und ggf. Maßnahmen eingeleitet werden.
Sind diese Checks durchgeführt, aktiviere ich den 20-Minuten-Timer auf meinem Telefon und schließe die Augen. Meistens gelingt es mir nicht, wirklich einzuschlafen, dennoch kommt das Klingeln des Weckers oft überraschend. Zu jeder vollen Stunde geht es unter Deck an den Kartentisch und der Logbucheintrag wird erledigt. Aller sechs Stunden wird zudem noch die aktuelle GPS-Position in die Karte eingetragen – ganz „oldschool“ mit Bleistift, Zirkel und Geodreieck. Da mein SKS-Kurs noch nicht lange her ist, geht mir das leicht von der Hand und es tut gut, das in der Theorie Erlernte tatsächlich praktisch einsetzen zu können.
Meine Wache vergeht ohne besondere Vorkommnisse, kurz vor Ende gelingt mir aber noch ein Foto des Bordcomputers, bei dem zusätzlich zur recht beeindruckenden Windgeschwindigkeit bei einem „Surf“ die 10 Knoten SOG (Speed over ground) geknackt werden – für ein Schiff wie Sabir ein wirklich beachtlicher Wert! Die Wassertiefe ist übrigens gänzlich falsch: wenn das Echolot keinen plausiblen Wert erhält, da der Meeresgrund zu weit entfernt ist (in diesem Fall müssten es über 3.000 m gewesen sein), spuckt er entweder „–“ oder einfach eine Zufallszahl aus.
Als ich höre, wie sich Claudia unter Deck vorbereitet und sie schließlich aus dem Niedergang emporblickt, weiß ich: es ist geschafft. Dennoch leiste ich ihr noch etwas Gesellschaft, genieße den Tagesbeginn an Deck und werde mich erst später in meine Koje begeben.
Auf einmal fällt mir im Cockpit ein fliegender Fisch auf, der sich irgendwann in der Nacht verflogen haben muss. Leider ist er bereits tot, es sollte allerdings trotz aller anglerischen Anstrengungen der einzige Fisch sein, den wir auf unserer Reise zu sehen bekommen …