Nach zehn Tagen im grauen November-Deutschland komme ich am 29. November wieder nach Porto Santo. Ich werde bis kurz vor Weihnachten hier sein. Ich treffe die Roald Amundsen, erlebe Winterstürme, bin auf der nun grünen Insel unterwegs und sehe die Weihnachtsbeleuchtung im Dorf. Am 20. Dezember geht es wieder nach Deutschland.
Es ist jedes Mal ein kleiner Kälteschock, wenn wir aus dem mit 17-22 Grad angenehm warmen Porto Santo in Deutschland ankommen. Wir haben da immer unsere wärmsten Kleidungsstücke an. Aber Winterkleidung ist das nicht – die liegt in Deutschland im Schrank. Die zehn Tagen, in denen ich in Deutschland bin, reichen nicht aus, um mich an das Novemberwetter zu gewöhnen.
Die Tage waren ausgefüllt mit Besuchen bei der Familie und Treffen mit Freunden. Geht man zehn Tage irgendwohin in den Urlaub, ist eigentlich immer reichlich Zeit zum Entspannen und Land und Kultur kennenzulernen. Zehn Tage für Familie und Freunde ist aber viel zu wenig, um allen Menschen, die man gerne mal wieder sehen würde, gerecht zu werden.
Trotzdem freue ich mich, am 29. November wieder in Stuttgart auf dem Flughafen zu sein und in das Flugzeug nach Madeira zu steigen. In Stuttgart ist es grau und nass. Wir starten bei Regen und es ist kalt. Als ich ca. 4 Stunden später auf Madeira lande, bin ich wieder zurück im ewigen Frühling. Das Sweatshirt, das mir in Deutschland noch ein bisschen zu kalt war, ist nun zu viel.
Da der Flug von Stuttgart nach Funchal nicht in einem Rutsch durchgebucht werden kann, muss ich nach der Ankunft mein Gepäck abholen und aus dem Sicherheitsbereich raus. Bis ich zu meinem Abflug nach Porto Santo einchecken kann, muss ich noch irgendwie ca. 4 Stunden Zeit totschlagen – alles mit meiner Reisetasche auf einem Kofferwagen. Wer sich jetzt fragt, warum mir für 10 Tage nicht auch Handgepäck reichen würde: Von Porto Santo nach Deutschland würde es mir reichen. Auf dem Rückweg ist meine Tasche mit vielen Dingen gefüllt, die ich bereits vor der Ankunft in Deutschland im Internet bestellt habe, bzw. mit Dingen, die ich in Deutschland besorgt habe, die wir hier auf Madeira oder den Kanaren nicht so einfach bekommen. Ich setze mich mit meiner Tasche raus in die Sonne, versuche in der Abflughalle ein bisschen zu dösen, schreibe/telefoniere mit Claudia. Irgendwann ist die Wartezeit vorbei. Ich kann mein Gepäck aufgeben und wieder in den Sicherheitsbereich gehen. Vor dem Gate treffe ich auf einen befreundeten Segler, der auch heute zurückfliegt. Die letzten Minuten vergehen so wie im Fluge und Ruck-Zuck bin ich auf Porto Santo. An Bord von Sabir ist alles in Ordnung.
Bereits als ich am Abend angekommen bin, habe ich an der Hafenmauer die „Roald Amundsen“ liegen sehen, die ich auch 2019 bereits auf Porto Santo getroffen habe (1, 2, 3). Aber es war mir zu spät. Ich war müde, wollte meine Tasche auspacken und nur ins Bett.
Am nächsten Morgen mache ich mich auf den Weg, der Roald einen Besuch abzustatten. Auch dieses Jahr ist Uli der Kapitän, aber „unser“ Steuermann Rüdiger fehlt. Ich bin in den drei Tagen, in denen die Roald noch hier ist, immer wieder mal an Bord und treffe auch im Dorf immer wieder mal ein paar Crew-Mitglieder.
Am Vormittag des 2. Dezember macht sich die Roald auf den Weg in Richtung der Kanarischen Inseln. Ich verabschiede Schiff und Crew am Leuchtturm an der Hafeneinfahrt.
Ich erlebe ein paar heftige Winterstürme, die von Süden und Südwesten kommend, hohe Wellen in den Hafen und über die Hafenmauer treiben. Die Wellen, die in die Hafeneinfahrt laufen, werden auf der gegenüberliegenden Seite von der Hafenmauer reflektiert und laufen dann direkt in die Marina. Alle Schiffe an den Stegen ruckeln an ihren Leinen und zerren an den Klampen und den Stegen. An einigen Stegen knackt es bedenklich. Einmal stehe ich nachts um 2:00 Uhr auf, als der Sturm ein Maximum hat und ich wegen des Heulen des Windes in den Riggs nicht schlafen kann. Mir bieten sich beeindruckende Bilder.
Aber es gibt auch wunderschöne Tage mit sommerlichen Temperaturen. Ich gehe oft zu „Casa Melim“ – einem örtlichen Baumarkt/Baustoffhandel – wenn ich Materialien und Werkzeuge für Arbeiten an Sabir benötige. Zum Teil nutze ich mein Fahrrad und strample den steilen Berg hoch. Zum Teil gehe ich aber auch zu Fuß auf unterschiedlichen Routen dort hin. Eine Route führt mich direkt hinter der Marina den Berg hinauf zum Aussichtspunkt „Miradouro da Portela“ mit einem grandiosen Blick auf den Hafen und die Südküste. Unterhalb des Miradouro verläuft ein Weg, immer entlang einer Höhenlinie direkt zum Baumarkt.
Ich genieße den Weg. Ich benötige nur ca. eine halbe Stunde mehr Zeit zu Fuß, als mit dem Fahrrad.
Am 12. Dezember habe ich mich abends mit Freunden zum Burger-Essen verabredet (höre ich jemanden „schon wieder Burger“ sagen?). Es ist heute mal wieder sehr windig. Wir haben Wind aus südlichen Richtungen und es steht starker Schwell in den Hafen. Ich habe uns einen Tisch auf 19:00 Uhr und ein großes Taxi auf 18:45 Uhr bestellt und mache mich eine Viertelstunde vorher auf den Weg zu unserem Treffpunkt an der Marina Bar. Ich bin gerade von Bord gegangen und habe mich auf den Fingersteg gekniet, um mir meine Schuhe anzuziehen, als ich hinter mir ein lautes Knacksen des Stegs höre. Ich schaue mich um und sehe, dass am Fingersteg die Verankerung an einer Seite komplett abgebrochen ist und der Finger bei jeder Schiffsbewegung vom Hauptsteg weggezogen wird. Sabir und das schwere Stahlschiff auf der anderen Seite hängen nur noch an dem zur Hälfte stabilen Fingersteg. Die Nachbarn sind nicht an Bord.
Ich mache mir Sorgen, dass der Finger komplett abbrechen könnte. Ich rufe meine Freunde an, schildere die Lage und bitte um Hilfe. Die einen kommen direkt zu mir, andere sagen dem Taxifahrer und der Helio’s Bar, dass wir erst später kommen werden, wieder andere versuchen meine französischen Nachbarn mit dem Stahlschiff zu informieren. Wir rufen ebenfalls Porto Santo Marina an und sagen, dass ein Fingersteg zu brechen droht.
Ich hole Ersatzleinen aus meinem Vorrat und wir sichern das Stahlschiff gegen den Hauptsteg, um damit den Finger zu entlasten. Wir verspannen ebenfalls den Fingersteg mit einer Leine von einer Klampe des Fingers zum Hauptsteg um die gebrochene Seite zu entlasten.
Ich bereite mich darauf vor, Sabir abzulegen und im Hafenbecken an den Anker zu gehen. Inzwischen kommen meine Nachbarn an. Sie haben das Glück, dass der Platz neben ihnen frei ist, so dass sie ihr Boot einfach an den anderen, intakten Finger verholen können. Wir nehmen die nun wieder freie Leine und ziehen das Heck Sabirs mit einer Achterklampe auf den Hauptsteg und entlasten so den Finger.
Ein Mitarbeiter der Marina kommt hinzu, begutachtet den Schaden, zeigt auf mich und sagt mir (wie von mir schon erwartet), dass ich Sabir vom Steg wegfahren soll. Wir schließen die Vorbereitungen zum Lösen aller Leinen ab und ich bereite den Anker so vor, dass ich ihn schnell fallen lassen kann.
Bei ca. 20kn Wind steuere ich Sabir aus der Box und fahre sie hinaus in das Hafenbecken. Ich drehe eine Runde durch das Hafenbecken und lasse den Anker gegen den Wind fallen. Er hält sofort. Da ich mich so gelegt habe, dass hinter mir kein anderes Schiff mehr ist und da ich weiß, dass sich die Windrichtung bis zum Morgen nicht wesentlich ändern soll, kann ich genügend Kette stecken, so dass Sabir die Nacht über sicher liegt.
Das war es mit dem Burger-Essen (also nicht „schon wieder“ 😉). Ich mache mir einen spanischen Linseneintopf aus der Dose warm und schaue mir einen Film an.
Die Nacht verläuft ereignislos, ich kann trotz des Windes und des Schwells einigermaßen gut schlafen.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück pumpe ich das Kanu auf und paddle in die Marina. Ich bitte Tom, mir beim Verholen von Sabir an einen Mooring-Ball zu helfen. Bei der Gelegenheit begutachte ich auch den abgebrochenen Steg.
Im Verlaufe des Mittags verlegen wir Sabir an die Mooring und ich genieße es tatsächlich draußen im Hafenbecken zu liegen und mich wieder auf einem Schiff zu fühlen – in der Marina fühlt sich Sabir doch eher wie eine Ferienwohnung an.
Aber es bleibt nicht nur ruhig, am 15. Dezember kommt wieder kräftiger Wind auf, der in Böen über das Hafenbecken fegt.
Ich bleibe auf Sabir, das Kanu habe ich hinten am Heck hängen. Es macht mir nichts aus, den ganzen Tag an Bord zu bleiben, ich genieße es, hier ungestört zu sein. Am frühen Nachmittag ändert sich meine Stimmung, plötzlich macht es mir was aus: Mein Kanu ist weg. Die Leine, mit der es festgemacht war, hängt noch hinten am Heck, aber das Kanu fehlt. Es hat sich offenbar losgerissen. Ich nehme mir ein Fernglas und suche die Mauer im Osten des Hafens ab – erfolglos. Das gelbe Kanu hätte ich sehen müssen. Sollte es sich losgerissen haben und über die Hafenmauer geflogen sein? Dann wäre es nun auf dem Weg nach Afrika… Ich schreibe eine E-Mail-Nachricht an die Marina und teile meinen Verlust mit. Ich bitte darum die Augen offen zu halten und das Kanu in Obhut zu nehmen, sollte es von jemandem gefunden worden sein.
Nicht lange, nachdem ich die E-Mail abgeschickt hatte, meldet sich der Hafenkapitän telefonisch bei mir und sagt mir in seiner verschmitzten Art, er habe zwei gute und eine schlechte Nachricht für mich. Die erste gute Nachricht: Ich kann Sabir morgen um die Mittagszeit „ins Päckchen“ an die Hafenmauer neben ein anderes Schiff legen. Das ist gut, da ich ja über Weihnachten nach Deutschland fliegen möchte und Sabir in der Zeit nicht an der Mooring bleiben kann. Die zweite gute Nachricht ist: Mein Kanu wurde vom Besitzer des Betonwerks im Osten des Hafens gefunden. Er hat es aus dem Wasser gezogen und im Windschatten an eines seiner Gebäude gelegt. Die schlechte Nachricht: Da hat es jemand weg genommen. Der Hafenmeister sagt, ich solle auf alle Fälle morgen ins Büro kommen, er wird die Marine-Polizei rufen und dort soll ich eine Anzeige aufgeben. Er besteht sogar darauf, da ein Diebstahl den guten Ruf von Porto Santo schädigen würde: „Hier wird nicht geklaut!“ Er sagt mir aber auch, dass er eine Idee habe, wer das Kanu genommen haben könnte. Ich solle ihm noch ein bisschen Zeit geben – ich höre ein Augenzwinkern in seiner Stimme (könnt Ihr Euch vorstellen, dass man ein Augenzwinkern hören kann?).
Zwei Stunden später klingelt das Telefon wieder. Der Hafenmeister meint „call me Sherlock!“ („Bitte sag Sherlock zu mir!“). Er hat wohl einem Kollegen der Personen, denen er zugetraut hat das Kanu zu entwenden, mitgeteilt, dass ein Kanu gestohlen worden sei und wie dämlich man sein muss, so ein Kanu zu stehlen: Der Besitzer des Kanus habe einen GPS-Tracker im Kanu versteckt und würde morgen zur Polizei gehen, dann kommt schnell heraus, wer das Kanu hat. (Der Vollständigkeit halber: Es befindet sich kein Tracker im Kanu – aber das ist eigentlich eine richtig gute Idee!) Offenbar ist nach dem Streuen der Information knapp eine Stunde vergangen und der Besitzer des Betonwerks hat sich gemeldet: Das Kanu liegt wieder an dem Platz, wo er es hingelegt hatte. Ich liebe Porto Santo 😄!
Am 16. Dezember verhole ich Sabir ins Päckchen und ein Mitarbeiter der Marina bringt mir mein Kanu. Die vordere Schlaufe ist abgerissen – ich hätte es einfach nicht hinter Sabir hängen lassen dürfen…
Erinnert Ihr Euch an die Fotos der Weihnachtsbeleuchtung von Funchal? Da ich dieses Jahr in der Vorweihnachtszeit auf Porto Santo bin, habe ich Gelegenheit mir die hiesige Weihnachtsbeleuchtung anzuschauen. Hier ist alles ein bisschen kleiner, familiärer – aber mit genauso viel Mühe und Hingabe gemacht. Schade, dass Claudia das alles nur über meine Erzählungen und meine Fotos miterleben kann.
Am 20. Dezember geht mein Flug nach Deutschland in den Weihnachtsurlaub. Wie immer werde ich Sabir in einem Zustand verlassen, als würde ich nicht wieder kommen – auch wenn der Aufenthalt in Deutschland nur für 2-3 Wochen geplant ist. Morgens um Viertel nach sieben bringt mich Herry auf den Flughafen von Porto Santo (Danke Herry, dass Du so früh für mich da bist!).
Als ich im Flughafen bin schaue ich in verwirrte Gesichter. Das Flugzeug der Binter-Canarias (der „Inselhüpfer“) ist noch nicht auf Porto Santo angekommen. Es kommt normalerweise morgens früh von Madeira hier an. Heute Nacht war aber so viel Wind, dass da irgendwas schief gelaufen sein muss. Ich mache mir Sorgen, ob ich meinen TUI-Flug nach Stuttgart rechtzeitig erreichen werde. Ich muss ja auf Madeira mein Gepäck abholen, aus dem Sicherheitsbereich raus und dann wieder für den Flug nach Stuttgart mein Gepäck aufgeben.
Irgendwann bekommen wir die Information, dass der Flug nach Madeira um 11:20 Uhr erst starten wird – das wird zu knapp, der Flug nach Stuttgart startet bereits um 12:00 Uhr. Mist!
Am Check-In-Schalter frage ich, ob es ausnahmsweise möglich ist, mein Gepäck von Porto Santo nach Stuttgart durchzurouten, so dass ich im Sicherheitsbereich bleiben und direkt zum Gate nach Stuttgart laufen kann. Die Damen hinter den Schaltern kümmern sich sehr um mich und tun ihr Möglichstes. Ich bekomme die Zusage, dass das Gepäck auf dem Flugfeld vom Binter-Flugzeug ins TUI-Flugzeug umgeladen wird. Ich denke mir: Und wenn es nicht klappt, kommt es halt erst einen Tag später an…
Jetzt gibt es erst mal ein Frühstück auf Kosten der Binter Canarias. Richtig genießen kann ich es noch nicht.
Gegen 10:35 Uhr landet die Maschine von Madeira kommend auf Porto Santo. Um 11:00 Uhr solle es für uns losgehen. So wie es aussieht, wird auch der Flug nach Stuttgart etwas später gehen – das würde die Sache wieder etwas entspannen. Wir steigen ein, müssen aber noch bis 11:15 Uhr warten, bis der Flieger starten darf. Ca. 20 Minuten später steht das Flugzeug auf dem Flughafen von Madeira und wir können aussteigen. Um 11:50 Uhr bin ich am Gate nach Stuttgart und 10 Minuten später auf dem Weg in die Maschine.
Ich sehe meine Tasche auf dem Vorfeld am Flugzeug neben einem Gepäckwagen stehen. Von meinem Platz im Flugzeug sehe ich, wie sie über das Förderband in den Bauch der Maschine geladen wird. Alles ist gut, Claudia ich komme!